Legenden der Klassik: Leonard Bernsteins spektakulär gescheitertes Musical

Legenden der Klassik: Leonard Bernsteins spektakulär gescheitertes Musical

Es ist der Abend der Broadway-Premiere. Zahlreiche Scheinwerfer erhellen die Bühne, die Ouvertüre schwillt an, und in den ersten Takten hallt Leonard Bernsteins Genie durch den Saal. Dieses Musical hat alles: Macht, Intrige und Melodien in berührender Intensität. Und doch ahnt an diesem Abend niemand, dass sie gerade das spektakuläre Scheitern eines der größten Komponisten der Moderne erleben.

Legenden der Klassik: Leonard Bernsteins spektakulär gescheitertes MusicalFoto: © Sony Music

Der 4. Mai 1976 hätte ein Triumph werden sollen. Leonard Bernstein, das große musikalische Genie hinter gefeierten Erfolgen wie „West Side Story“ und „Candide“, brachte sein ambitioniertes Musical „1600 Pennsylvania Avenue“ auf die Bühne. Doch nur vier Tage später, nach sieben Vorstellungen, fiel der Vorhang – endgültig. Das Publikum blieb verwirrt zurück, die Kritiken waren vernichtend, und Bernstein war am Boden zerstört. Was war geschehen? Wie konnte ein Werk, das von einem der größten Komponisten seiner Zeit stammt, so spektakulär scheitern?

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Macht und Ungerechtigkeit

„1600 Pennsylvania Avenue“ war alles andere als leichte Unterhaltung. Nixon und Watergate hatten sich gerade erst ins kollektive Gedächtnis Amerikas eingebrannt und die Kritik gegenüber Regierung und Patriarchat wuchs. Unter diesem Eindruck hatten Bernstein und sein Librettist Alan Jay Lerner – gefeiert für Klassiker wie „My Fair Lady“ – nicht weniger vor, als die Geschichte des Weißen Hauses und damit der Vereinigten Staaten selbst zu erzählen. Dabei ging es ihnen vor allem um die dunklen Kapitel: Rassismus, Sklaverei und die moralischen Widersprüche einer Nation, die Freiheit predigte und gleichzeitig unterdrückte.

Das Musical spannte den Bogen von 1800 bis 1900, von der Präsidentschaft John Adams bis zu Grover Cleveland. Präsidenten und First Ladies wurden von denselben Schauspielern dargestellt, aber die eigentlichen Hauptfiguren waren zwei afroamerikanische Diener: Lud und Seena, die das Geschehen aus ihrer unterprivilegierten Perspektive kommentierten.Die Idee war mutig und komplex – vielleicht zu komplex. Während Bernsteins Musik voller Leidenschaft und Ambition war, litt das Buch von Lerner unter schwerfälliger Symbolik und einem Mangel an klarer dramaturgischer Linie.

Weißes Haus
Foto: Orhan Çam/stock.adobe.com
Der Schauplatz des Musicals: Das Weiße Haus in Washington D.C.

Chaos hinter den Kulissen

Schon während der Proben lief vieles schief. In der ursprünglichen Fassung war „1600 Pennsylvania Avenue“ als „Stück im Stück“ geplant: Eine Theatergruppe probt ein Musical über das Weiße Haus und reflektiert dabei gleichzeitig ihre eigenen Vorurteile und Vorannahmen. Doch dieses Konzept wurde während der Voraufführungen gestrichen, was zu inhaltlichen Lücken führte.Die Inszenierung in Washington, D.C., wurde zur Katastrophe. Regisseur Frank Corsaro und Choreograf Donald McKayle verließen das Projekt, und Bernstein, der als Perfektionist bekannt war, kämpfte verbissen um jede Note seiner Musik. Die Voraufführungen in Philadelphia liefen nicht besser, und als das Stück schließlich am Broadway ankam, war es bereits irreparabel beschädigt.

Ein verkanntes Meisterwerk?

Doch nicht alles war verloren. Die Musik blieb das Herzstück des Werks. Lieder wie „Take Care of This House“, eine bewegende Hymne auf Verantwortung und Hoffnung, und das eindrucksvolle „Duet for One“, in dem die First Lady mit sich selbst über ihre Rolle hadert, zeigten Bernsteins außergewöhnliches Talent. Patricia Routledge, die die First Ladies spielte, erhielt für ihre Darbietung Standing Ovations – doch all das reichte nicht, um das Musical zu retten.

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Das Echo des Scheiterns

Nach nur sieben Vorstellungen wurde „1600 Pennsylvania Avenue“ abgesetzt. Bernstein verweigerte die Aufnahme eines Cast-Albums, so groß war seine Enttäuschung. Doch die Musik lebte weiter. Einzelne Lieder fanden ihren Weg ins Repertoire von Künstlern und Chören, und 1997 wurde eine Konzertversion des Werks unter dem Titel „A White House Cantata“ in London aufgeführt.

Rückblickend ist „1600 Pennsylvania Avenue“ weniger ein Broadway-Flop als ein Beweis für Bernsteins künstlerischen Mut. Er wagte es, die politische und gesellschaftliche Geschichte seines Landes musikalisch zu durchleuchten – und riskierte dabei, das Publikum zu überfordern. Das Werk mag an seiner Größe und seinen Ansprüchen gescheitert sein, aber es zeigt auch, wie weit Kunst gehen kann, wenn sie nicht vor unbequemen Wahrheiten zurückschreckt.

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Holger Hermannsen / 28.01.2025

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